Deutsche Gesellschaft für
Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V., Bonn

Die bildgebene Stimme

Festvortrag während der Eröffnungsfeier
der 75. Jubiläumstagung der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde,
Kopf- und Hals-Chirurgie e.V., Bonn,

Wolfgang Pirsig
Bad Reichenhall, im Jahre 2004


Lieber Herr Präsident, liebe Freunde, sehr geehrte Damen und Herren!

Das Wort „bildgegeben“ ist eine Schöpfung unseres Präsidenten.
Es soll etwa das ausdrücken, was John of Ardenne im Detail eines Holzschnittes nach 1412 über die Unterhaltung eines Schwerhörigen mit seinem Rat gebenden Arzt publizieren ließ (Royal Library Stockholm).

Am Anfang war der Schrei, der Schrei, mit dem wir alle einmal als Neugeborene der Welt kundtaten, dass von jetzt an mit uns zu rechnen ist, wie hier der kleine Sohn Ursus von Otto Dix, der im Schreien seine Fäustchen ballt und die Großzehen dorsalflektiert. Der Schrei, in frühen Kulturen ein Symbol der Schöpfung, ist komprimierte Stimme und enthält viele lautliche Informationen, um zu unterscheiden, ob er aus Angst, Wut oder Schmerz geschieht oder ob ihn Hunger, Lust, Protest oder Verzweiflung hervorbringen.

Nein, das enge Gewickeltsein in so jungen Tagen gefällt keinem und schon gar nicht in Gegenwart eines Pfeifenrauchers (Österreichisches Tabakmuseum). Auch zur Römerzeit schrien die Neugeborenen, und das Geschrei wurde von manchen Eltern als lästig empfunden. Damals flehten dann die Eltern die Schutzgötter Vaticanus und Fabulinus um Hilfe an. Recht hat er, der kleine Kerl: das Trinken aus Mutters Brust ist schöner als aus der Flasche (Deutsches Plakatmuseum Dresden).

Nicht jeder will zum Wikingerhelden erzogen werden wie auf dieser Postkarte zu sehen ist. Wenn einem der Lehrer das Ohr lang zieht, muss der Junge schreien, weil’s weh tut, wie es hier Honoré Daumier zeigt (Charivari 1846).

Auch der kleine Amor brüllt aus vollem Hals, wenn ihn seine Mutter Venus seiner Streiche wegen züchtigt, was der Bildhauer Gottfried Knöffler so realistisch in Ton festgehalten hat. Man sieht die kleine Zunge Amors fast in den Druckwellen des Schreiens vibrieren (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg).

Den Schmerzensschrei eines Kleinkindes und den mordenden Dolch des Soldaten hat Cornelis Corneliz van Haarlem auch medizinisch exakt festgehalten (Rijksmuseum Amsterdam).

Im Laufe der Zeit werden die Kleinen dann größer und manche können singen wie die Engelein, was Künstler seit dem Mittelalter immer wieder in ihren Werken ausdrückten wie hier Andrea Mantegna auf einer Altarmalerei in San Zeno in Verona. Auch die Maler der Romantik des 19. Jahrhunderts stellten gern singende Kinderscharen dar wie hier Louis Troussaint beim Geburtstagsständchen für den Herrn Schuldirektor.

Wie sich ein geheilter taubstummer Junge stimmlich plötzlich entfalten kann, will diese Miniatur zeigen, welche die Wunderheilung eines Knaben am Grabe des Heiligen Königs Louis IX von Frankreich wiedergibt (Livre des Faiz Monseigneur Saint-Louis). Ganz anders die Sprechäußerungen eines Taubstummen, die Karl Hubbuch mit wenigen Strichen einfängt. Hören wir dazu Sokrates in Platos Kratylos-Dialog (4): „Nimm an, wir hätten keine Stimme oder Zunge und wollten doch miteinander kommunizieren, sollten wir dann nicht, wie die Tauben und Stummen, Zeichen mit den Händen, dem Kopf und mit dem Rest des Körpers machen?“

Dieses Sokrates-Zitat enthält schon wesentliche Hinweise, wie man eine bildgegebene Stimme erkennen kann. Wir haben schon gesehen, dass ein geöffneter Mund ein wichtiges Indiz für Stimme sein kann. Der kann aber auch Gähnen bedeuten, was hier Daumier so meisterhaft karikiert hat (Charivari 1852, Croquis musicaux). Allerdings sind beim Gähnen meist die Augen geschlossen. Außer dem geöffneten Mund können Gesichtsmimik, Körperhaltung, Gestik, Sprechbänder oder Musikutensilien andeuten, dass sich ein Mensch stimmlich äußert.

Die Gestik allein kann schon so überzeugend sein, wie es wiederum Daumier darstellt, dass hier jeder Betrachter des Bildes „hört“, dass geflüstert wird, selbst durch Masken hindurch (Louvre, Paris).

Doch kehren wir zum Schrei zurück und suchen seine Darstellung auch in antiken Quellen. Ein Steinmetz hat vor über 4500 Jahren in einem ägyptischen Grabrelief in Saqqara das hastige Treiben einer Rinderherde durch eine Furt festgehalten. Eine solche Herde hatte immer Angst vor den Krokodilen, die in den Fluten der Nilarme lauerten, und ließ sich nur mit dem Trick des schreienden Kälbchens der Leitkuh durch die Furt treiben. Kläglich schreit dieses Kälbchen (Pfeil), das gerade auf dem Rücken eines Hirten ans Ufer getragen wird. Es blickt verängstigt zur Mutter zurück, die noch tief im Wasser mit zwei anderen braunen Kühen watet. Auch die Mutterkuh schaut mit erhobenem Kopf ängstlich zu ihrem Kleinen auf und brüllt mit offenem Maul. Die dritte Kuh wird von einem anderen Hirten durchs Wasser geführt, dahinter folgen Ochsen.

Ein vergrößerter Ausschnitt zeigt wie naturnah das schreiende Kälbchen und seine brüllende Mutter in Kalkstein gemeißelt wurden.

Aus dem Mund des hinteren Hirten kommt ein Sprechband und erzählt in altägyptischen Hieroglyphen: „He, du Beschissener! Mach, dass diese Rinder folgen! Kneife das Kalb der Mutterkuh!“ (für die Übersetzung danke ich der Heidelberger Ägyptologin Frau Dr. Dina Faltings). Auf diesem Relief vor über 4500 Jahren erscheinen also schon Angstschreie von Tieren zusammen mit in Stein gemeißelter Sprache in Form eines Sprechbandes aus Hieroglyphen.

Auch gesangliche Stimmäußerungen wurden im Alten Ägypten bildlich dargestellt. In einem Grab in Saqqara fand sich dieses Kalksteinrelief, welches Sänger und Musiker auf einem Bankett darstellt. Gespielt werden Flöte und Doppelklarinette. Um den Takt anzugeben, schlägt sich der eine Sänger auf die Knie, während sich der Sänger mit den geöffneten Lippen zum Lauschen die Hand ans Ohr hält und mit den Fingern der anderen Hand schnippt. Diese Gestik findet man noch heute bei manchen Sängern und Geschichtenerzählern im modernen Ägypten wieder (Ägyptisches Museum, Kairo).

Aus einem Grab in Theben kennen wir eine Wandmalerei mit einem blinden Harfner. Er öffnet den Mund zu einem „Harfnerlied“, in dem die Schönheit gepriesen und zum Genuss der Freuden des Lebens aufgerufen wird. Diese Stele zeigt einen sehenden Harfenspieler, der vor dem Gott Horus singt, erkennbar an Sonnenscheibe und Kobra auf seinem Haupt.

Diese Papyruszeichnung stellt Musizieren und Singen dar, ausgeführt von vier Tieren, die aufgereiht auf ihren Hinterfüßen stehen: der Affe bläst konzentriert die Doppeloboe, das Krokodil spielt verzückt die Laute mit dem Entenkopf als Griffbrettende – ein Symbol für Erotisches und käufliche Liebe - der Esel zupft singend die Harfe und der mächtige Löwe klimpert auf der Leier, während er mit erhobenem Kopf und weit geöffnetem Maul inbrünstig singt. Welch eine gelungene Karikatur menschlicher Musizier- und Stimmkunst, festgehalten vor 3500 Jahren auf einem Stückchen Papyrus (Ciba Zeitschrift 100, Bd 9: p. 3322, 1961).

Am differenziertesten wurde die Stimme jedoch von Künstlern im antiken Griechenland in Skulptur und Malerei sichtbar gemacht, und zwar noch etwas früher als im Alten Ägypten. Diese etwa 25 cm hohe Skulptur eines rezitierenden und singenden Harfenspielers (Kitharode) hat ein Bildhauer vor fast 5000 Jahren auf den kykladischen Inseln aus einem Marmorblock geschaffen. Der Kopf ist etwas zurückgebeugt, die Ohren kontrollieren, was aus dem leicht geöffneten Mund und von den angezupften Saiten erklingt (Metropolitan Museum of Art, New York).

Auf Kreta fanden Archäologen diese 13 cm hohe so genannte „Schnittervase“ aus der spätminoischen Zeit, auf der eine ländliche Prozession mit 27 Männern im Flachrelief wiedergegeben ist. In der Mitte des Zuges – hier ein Ausschnitt - gibt ein bärtiger Musiker mit einer metallenen Rassel den Schrittrhythmus an. Drei Männer hinter ihm singen oder rufen wahrscheinlich im Gebet eine Gottheit um Fruchtbarkeit der Erde an (Archäologisches Museum, Heraklion).

In einer anderen Gruppe auf der Rückseite der Vase hat sich ein Mann gegen den Strom der Marschierenden gestellt und spricht sie mit weit geöffnetem Munde an. Hier ist eine minoische Originalrassel aus Ton zu sehen, also das so genannte Sistrum, das als Musikinstrument wahrscheinlich aus Ägypten von den Griechen übernommen wurde (Archäologisches Museum, Heraklion).

Stimmliche Darstellungen entdeckt man in Fülle auf antiken griechischen Vasen. Auf einer meterhohen Amphora aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. stehen sich mehrere Kriegerpaare gegenüber. Alle haben ihren Mund weit offen und brüllen sich wahrscheinlich Schmähworte entgegen, um ihre Kampfeswut anzustacheln (Antikensammlung, Berlin).

Ein schwarzfiguriges Vasenfragment zeigt ein Wagenrennen. Achilles hat es zu Ehren seines vor Troja getöteten Freundes Patroklus organisiert wie auf der spiegelbildlichen Inschrift „patroklus atla“ zu lesen ist. Auf der Holztribüne feuern die Zuschauer mit Armen und Schreien die Wagenlenker an. Eine andere Inschrift: „Sophilos hat mich gemalt“ weist auf den frühesten attischen Maler hin, dessen Namen wir kennen (Nationalmuseum, Athen).

Auf diesem Vasenausschnitt wird ein Sängerwettstreit im Rahmen der Pythischen Spiele in Delphi gezeigt. Apollo selbst begründete diese Spiele nach Tötung der Schlange Python. Die Spiele begannen stets mit einem musikalischen Wettstreit, wobei epische Texte zur Lobpreisung Apollos vorgetragen wurden, begleitet von Leier, Kithara oder Flöte. Hier stehen Doppelflötespieler und Sänger auf einem Podium mitten im Wettkampf. Der Kopf des Sängers ist nach hinten geneigt, der Mund weit offen (Metropolitan Museum of Art, New York). Ein bärtiger Mann singt hier, gemütlich auf bunt gewebten Kissen liegend. Die Worte des Liedes kommen als Sprechband aus seinem Mund und sind von rechts nach links gemäß der archaischen Schreibweise geschrieben. Sie bilden den ersten Vers aus einem Gedicht des Theognis und lauten: „O du der schönste und höflichste aller Jünglinge; stehe da hin und horche auf meine kurzen Heldenlieder!“ (Nationalmuseum Athen).

Eine Liebeserklärung von Theseus an Ariadne vor 2600 Jahren soll auf diesem Krug aus dem Archäologischen Museum in Heraklion wiedergegeben sein. So zart hat bis zu dieser Zeit noch niemand ein Liebesgeflüster dargestellt. Die Trinkschale des Malers Douris zeigt das Schwätzchen zweier junger Frauen bei der Wollbereitung (Antikensammlung, Berlin).

Auf dem Weinkännchen schauen wir einem Tauschgeschäft zwischen einem kleinen Buben und einem großen Jungen auf dem Stuhl zu. Der Bube möchte für sein Weinkännchen vom großen Jungen gern dessen Vogel bekommen (Antikensammlungen, München). Der Maler Makron stellt auf dieser Trinkschale einen jungen Mann dar, der einen Knaben anspricht, um dessen Gunst zu erwerben. Dieser senkt noch schüchtern, aber nicht abweisend seinen Blick (Antikensammlungen, München).

Auf der rotfigurigen Schale sehen wir angeblich den Fabeldichter Aesop wie er mit einem Fuchs konfabuliert. Während es an der Kommunikationsgestik wohl keinen Zweifel gibt, wird diskutiert, ob sich hinter dem minderwüchsigen Mann mit dem übergroßen Kopf die Knochenerkrankung „Pycnodysostose“ verbirgt. An dieser Erkrankung soll auch der Maler Toulouse- Lautrec gelitten haben, der sich hier selbst 1880 so gezeichnet hat. Die Ähnlichkeit der Profile beider ist jedenfalls frappierend (Vatikanische Museen).

Auch Schmerzensschreie stellten die Griechen in ihrer visuellen Kunst dar, allerdings erst in der späten Klassik und vor allem im Hellenismus. Philoktet ist von der Schlange gebissen worden. Sein Gesicht zeigt den körperlichen Schmerz. Er hat den Mund verzerrt aufgerissen und schreit. Wegen der unerträglich stinkenden Schlangenbisswunde wird Philoktet auf Odysseus Rat auf der Insel Lemnos zurückgelassen (Louvre, Paris). Der Pergamon-Altar feiert den Sieg Pergamons über die Eindringlinge aus Kleinasien. In den Friesen wird dieser Sieg als Kampf der olympischen Götter gegen die Giganten dargestellt. Hier der vom Pfeil des Herakles getroffene Gigantenführer Alkyoneus, den außerdem eine Schlange in die rechte Brust beißt. Athena hat ihn dazu an den Haaren gepackt (Pergamon Museum, Berlin).

Kommen wir zum Lesen bei den alten Griechen, das privat oder öffentlich wohl in der Regel laut erfolgte. Dieses laute Lesen wurde bis in die Spätantike zu Augustin weitergepflegt. Der Maler Onesimos zeigt uns auf diesem Trinkschalenausschnitt, wie ein Knabe laut aus einer Papyrusrolle vorliest (Antikensammlung, Berlin). Douris stellt auf der so genannten Schulschale den klassischen Unterricht im Lesen, Rezitieren, Schreiben, Leier- und Flötenspiel der griechischen Knaben dar. Dieser Schalenausschnitt zeigt den Unterricht im Rezitieren, also das Nachsprechen eines Textes, den der Lehrer aus einer Papyrusrolle laut vorliest (Antikenmuseum, Berlin).

Hier hat ein Vasenmaler gut 100 Jahre nach ihrem Tod die beiden großen Lyriker Sappho und Alkaios festgehalten. Sie lebten um 600 v. Chr. auf der Insel Lesbos und dichteten Verse über Liebe, Leidenschaft, Heldentum und Tod. Ihre Gesänge begleiteten beide selber auf der Lyra. Hier singt gerade Alkaios und Sappho lauscht (Antikensammlungen München).

Während Alkaios linke Hand die Saiten zupft, quellen aus seinem geöffneten Mund eine Reihe gleichgroßer rundlicher Formationen, die wohl Gesangnoten darstellen. Sie liegen in der obersten gebrannten Farbschicht der Vase und lassen sich nur unter einem bestimmten Lichteinfall entdecken oder auch auf dem Monitor mit der Kontrasttaste im Powerpointprogramm. Gemalte Noten 480 v. Chr.! In den Münchner Antikensammlungen zu bestaunen!

So wie die Ägypter vor 4500 Jahren Sprache in steinerne Hieroglyphen-Sprechbändern transformierten - wir sahen es oben - haben die alten Griechen 128 v. Chr. den Gesang in Form von Noten in Marmorblöcke eingemeißelt. In der Südwand des Athener-Schatzhauses in Delphi sind die bisher wohl ältesten musikalischen Notierungen zu finden, und zwar als Notensymbole im ionischen Alphabet zwischen den Textzeilen zweier Hymnen an Apollo. Vorgetragen wurden diese Hymnen während der Opferhandlungen von einem 51köpfigen Knabenchor und drei Solisten, zu denen noch weitere 39 Sänger und ein Solist hinzutraten. Lyren und Flöten begleiteten den Gesang.

Schauspieler im alten Griechenland: Ihre Gesichter sind hinter Masken verborgen, die einen offenen übergroßen "Mund" haben. Durch Maske und Mundtrichter wurden Sprache und Gesang tonal verzerrt, aber auch verstärkt, so dass man den maskierten Musikanten oder Schauspieler nicht identifizieren konnte. Unsere Maskenparade zeigt im Uhrzeigersinn: die Maske eines Pornoboskos (auf Deutsch: Bordellwirt) …eine weibliche Maske der Tragödie …die grinsende Maske eines Sklaven für Komödien …eine jugendliche Hetäre …den leitenden Diener …und den angeberischen Jüngling (Antikensammlungen München, Dresden und Berlin).

Zwei Schauspieler (Phlyaken) der Volkspossen in den griechischen Städten Unteritaliens stellt der Judgement-Maler auf einem Glockenkrater dar. Sie tragen Kostüme und Masken, haben ausgestopfte Bäuche und umgehängte Phalli. Ehestreit ist hier das Thema: ein alter Mann steht, auf einen Stock gestützt, verängstigt vor seiner Frau, die drohend mit erhobenem Zeigefinger auf ihn einredet (Kunsthistorisches Museum, Wien).

Mit der Entwicklung der Demokratie unter Perikles entwickelte sich auch die Kunst der öffentlichen Rede in Athen. Redner wurden meist mit einer typischen Rednerpose des rechten Armes dargestellt wie dieser Schauspieler der Neuen Komödie aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. (Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg).

Nun zu der von Sokrates erwähnten Zeichensprache: Auf dieser Trinkschale stellt der Makron-Maler die Schwestern Philomela und Prokne mit ihrem Söhnchen Itys dar. Prokne hört entsetzt den grässlichen Bericht und Plan, den ihr die stumme Schwester Philomela mit redenden Fingern mitteilt. Prokne soll ihr geliebtes Söhnchen aus Rache gegen ihren Mann Tereus, König von Thrakien, schlachten lassen. Denn Tereus hatte sich in wildem Begehren an der Schwester seiner Frau, der Philomela, vergangen, hatte ihr danach die Zunge herausgeschnitten, damit sie über seine ruchlose Tat nicht reden konnte (Louvre, Paris).

Erste Zwischenbilanz: Die Griechen der Antike vermochten schon viele Bereiche menschlicher Stimmäußerungen auf Vasen, durch Terrakottafiguren oder Skulpturen abzubilden. Sie wurden damit zum Vorbild für die Kunst mehrerer europäischer Kulturen, was ich kurz an Beispielen der Sprechkraft der Hände, des Sprechbandes, des Gesangs und des Schreies aus neueren Jahrhunderten zeigen möchte.

Der Redegestus der antiken Griechen und Römer, die ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, ist in der christlichen Ikonographie wiederzufingen. In dieser Miniatur aus dem Perikopenbuch Kaiser Heinrichs III. wird die Heilung des Blinden durch Christus dargestellt. Über der Darstellung stehen die Worte: „Hier gibt Christus einem Blinden mit dem Wort das Licht zu sehen.“

Hildegard von Bingen disputiert mit Kaiser Friedrich Barbarossa: „est“ contra „non est“! Kürzer kann man zwei verschiedene Weltanschauungen wohl kaum auf den Punkt bringen (Museum des Chorherrenstiftes, Klosterneuburg).

Die Szene vom 12jährigen Jesus, der im Tempel mit den Schriftgelehrten diskutiert, wurde häufig im Mittelalter dargestellt. Auf diesem Ölbild haben, nach den Gebärden der Hände zu urteilen, offensichtlich alle etwas mitzuteilen (National Gallery, Washington).

Nur 10 Jahre später hat Albrecht Dürer diese Diskussion im Tempel in einmaliger Dichte gemalt: magisch wird unser Blick auf das Handknäuel der zarten Hände des jungen Jesus und der groben Hände eines alten Schriftgelehrten gelenkt (Sammlung Thyssen-Bornemesza). In seinem Artikel über die Sprechkraft der Hände war Julius Berendes von diesem Dürerbild besonders fasziniert (HNO Informationen 4/1992 und 2/1993).

Auch die Sprechbänder auf Bildern im Mittelalter wurden aus dem Altertum übernommen. Diese italienische Miniatur von Manfredi stellt Hippokrates (unten links, Pfeil) und Galen ihm gegenüber im Gespräch dar. Nach dem Inhalt der Sprechbänder geht es wohl um Inzisionen.

Die Buchmalerei im Karlsruher Codex perg. 92 zeigt links den Besuch des zum Christentum bekehrten Raymundus Lullus im Marienheiligtum von Rocamodour und rechts in Santiago de Compostela. In lateinischer Sprache ergießt sich ein geordnetes Sprechband aus seinem Mund, das den Luftraum füllt, welcher vor den Heiligtümern frei geblieben ist. Er spricht im wahrsten Sinne des Wortes druckreif (Badisches Landesbibliothek Karlsruhe).

Eine besondere Form des Sprechbandes ist häufiger in den mittelamerikanischen Codices des 16. Jahrhunderts zu entdecken. So hier aus dem Codex Mendoza von 1544/45: in einem einfachen Krankenraum liegt ein hospitalisierter Indianer und drückt seine Klagen in Form dieser seepferdchenartigen Sprechformationen aus.

Eine ganz besondere Sprechbandarole radierte James Gillray am 16. Februar 1793: wir sehen eine Guillotine mit dem am 21. Januar desselben Jahres enthaupteten französischen König Ludwig XVI. Aus dem Blut des Enthaupteten steigt eine rote Wolke empor, in der sich zunehmend geschriebene Wörter formieren, die zu einem Racheschwur aus dem abgeschlagenen königlichen Kehlkopf verschmelzen und nach links herüber getrieben werden. Das Blut der Ermordeten schreit nach Rache!

Nun einige Beispiele aus der neuzeitlichen Gesangsdarstellung: 1432 vollendete Jan van Eyck den Genter Altar. Er malte dort auch lebensnah Engel, die singen. Einige Leute behaupten sogar, dass man aus Mienenspiel und Lippenstellung dieser Engel erkennen könne, welche Stimmlage sie singen. Bei vier Engeln scheint es sich um sehr hohe Töne zu handeln, was man aus den Stirnfalten zwischen ihren Augenbrauen ablesen will.

Der Italiener Parrasio Micheli malte die singende und Laute spielende Venus und ihren Sohn Amor, der artig das Notenbüchlein hält. Welch ein Unterschied zum schreienden Amor nach der Tracht Prügel, wie eingangs bei Knöffler gesehen! Die Laute galt seit langem als das Instrument der Lust, des Lasters und der käuflichen Liebe. Die offenherzige Venus unterstreicht das moralische Anliegen vom Auftraggeber des Bildes: Warnung vor der Musik als Hilfsmittel zur Verführung (Museum der Schönen Künste, Budapest).

Die Welten der Cafés und des Balletts zogen Edgar Degas immer wieder an. Im Café hielt er mehrmals mit Pinsel und Bleistift typische Momente beim Vortrag einer Sängerin fest und verschmolz diese Skizzen dann im Atelier zu den Blättern wie das der "Sängerin mit Handschuhen".

Honoré Daumiers „Grölende Zecher“ sind hinsichtlich ihrer Stimmäußerungen selbstredend.

Diesen drei Damen, von Paul Kleinschmidt gemalt, sieht man die Freude am Singen wirklich an, und wenn Sie sich nur auf den stimmstützenden Ausdruck der Münder, Gesichtmimik und Handgestik konzentrieren, dann könnte Ihnen etwas Wesentliches entgehen: nämlich die herrlichen Kleider.

Troubardix oder wie böse Zungen sagen, Kakophonix, der Barde aus dem Dorf von Asterix und Obelix, singt nur so gut, weil er noch sein Zäpfchen hat.

Auch singende Superstars gab es schon früher: Das Schicksal einer solchen Stimme hat Richard Taylor (1963) in einem Limerick verewigt:

There was a young girl in the choir
Whose voice rose hoir and hoir
Till it reached such a height
It was clear out of sight
And they found it next day in the spoir

Ich möchte auch zwei Beispiele der bildgegebenen elektronischen Stimme zitieren: Gerard Hoffnungs Karikaturen beschreiben liebevoll die Welt der Sänger und Musiker. Hier ein Beispiel aus seinem Büchlein "The Hoffnung Music Festival". Auch der chinesische Karikaturist Yin Sang Wang drückt uns seine Ansicht über eine verbreitete Form der elektronischen Stimme aus.

Auf dieser Abbildung ist die Stimmäußerung schon sehr abstrakt. Es ist die Zeit- Frequenzdarstellung, ein sog. Spektrogramm, des Textes /Im Anfang war das Wort/, gesprochen von einem Mann (Werner Deutsch, p. 135-146 in: Der Turmbau zu Babel. Bd II, 2003)

Noch einmal zurück zur Darstellung des Schreies, zum Schrei des gequälten und verlassenen Menschen des 20. Jahrhundert. Edvard Munch leitet diese Periode 1893 mit seinem berühmten Bild „Skrik“ ein, das im Osloer Nationalmuseum ausgestellt ist. Er sagt zu diesem Bild: „Ich ging spazieren mit zwei Freunden. Da sank die Sonne. Auf einmal war der Himmel rot wie Blut, und ich fühlte einen Hauch Wehmut. Ich stand still und lehnte mich an das Geländer. Auf dem schwarzblauen Fjord und über der Stadt lag der Himmel wie Blut und wie Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter, und ich stand allein, bebend vor Angst. Mir war, als ging ein mächtiges, unendliches Geschrei durch die Natur.“

„Streichhölzer, Echte….“ kommt mit schwachen Kreidestrichen wie ein Hilfeschrei als Sprechband aus dem Mund eines Krüppels aus dem 1. Weltkrieg, und verhaucht in den Schritten vorbeihastender Menschen und an der kalten Häuserwand. Otto Dix 1920 (Staatsgalerie, Stuttgart).

1937 malt der Mexikaner David Alfaro Siqueiros sein „Echo of a Scream“: ein verlassenes sterbendes Kleinkind, außer dem schreienden Kopf schon zerfallen und angepasst an die Teile eines Müllberges in einer leblosen industriellen Mondlandschaft. Nur das Echokind, das aus dem Mund des großen Kopfes herausgeschleudert wird, lebt noch mit heilen Körperkonturen - leider jedoch nur noch als das Echo eines Schreies (Museum of Modern Art, New York).

Massengräber mit schreienden Metallgesichtern in den „Voids“, den Todesschächten im Jüdischen Museum zu Berlin, halten Erinnerungen an den Holocaust wach.

Im 21. Jahrhundert wird vieles noch lauthalser als im 20. Jahrhundert herausgeschrien: Reklame für ein … Musikfestival in Berlin (Plakat).

Marktschreier der Supermärkte werben hier in Utrecht für den Ausverkauf der Waren mit 50% Preisreduktion (Plakat).

Selbst die Stimme eines Toten wird vermarktet: in Gunther von Hagens silikongehärtete „Körperwelten“. „Basketballspieler“ hat er diesen silikonisierten Toten genannt.

Die alten Griechen stellten auch die Stimme von Sterbenden dar. Am bekanntesten ist wohl die Stimme des Orpheus, der mit seinem Gesang die wilden Tiere zähmte und Bäume und Felsen entzückte (Antikensammlung, Berlin). Am Ende jedoch zerrissen thrakische Frauen ihn in Stücke und warfen seinen Kopf in den Fluss Hebros.

Von dort aus schwamm der Kopf, immer noch singend, ins Meer und wurde an den Strand der Insel Lesbos gespült. In einer Höhle prophezeite Orpheus’ Mund Tag und Nacht, bis Apollo aus Eifersucht Orpheus Mund verstummen ließ. Wir sehen auf diesem griechischen Vasenbild, wie ein junger Mann auf einem Stuhl aufschreibt, was der Kopf des Orpheus orakelt. Dahinter Apollo mit einem Lorbeerzweig (Corpus Christi, Cambridge). Das Bild einer sterbenden, aber schon körperlosen Stimme der alternden Sibylle, die bildlich nicht gestaltbar ist, schildert Marie Luise Kaschnitz in ihren „Griechischen Mythen“: „Die Sibylle der Menschen ist so alt wie die Welt. Es heißt, dass sie, auf einem Felsen sitzend, gleich nach ihrer Geburt zu weissagen begann. Wie sie die Namen aller Dinge kannte, war Fernes ihr gegenwärtig und Zukünftiges offenbar. Sie lebte tausend Jahre lang, wanderte und kündete die Zukunft, und im Laufe dieser Zeit verzehrte sich ihr Leib und schwand hin, bis nur ihre Stimme noch blieb. In einem goldenen Käfig aufgehängt wie ein seltsamer Vogel hielt diese Stimme Zwiesprache mit den Vorübergehenden, klagte und ersehnte sich den Tod.“

Doch so traurig wie die beiden letzten Bilder soll unsere Exkursion über die bildgegebene Stimme nicht enden. Ich möchte Ihnen zum Schluss deshalb eine Stimme vorstellen, die sich seit gut 30 Jahren bei Hunderten von Studenten im HNO-Spiegelkurs bis tief in das Unterbewusste eingrub, wenn sie uns erklärte, wie wir eine „Stimme“ mit dem Kehlkopfspiegel „sehen“ können (Videoclip öffnen).

Das war die Stimme unseres Präsidenten Hans-Jürgen Schultz-Coulon vor 30 Jahren und die spiegelbildgegebene Stimme seiner Patientin. Wenn wir uns sein Porträt von damals unter die Lupe nehmen, so hat sich eigentlich kaum etwas verändert, bis auf die schönen Koteletten, die inzwischen doch deutlich weißer geworden sind. Nehmen wir das als ein Zeichen seiner zunehmenden Weisheit.

Danke!