Deutsche Gesellschaft für
Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V., Bonn

HNO Informationen Präsidentenrede 2025

Ausgabe 02-2025 I HNO-Kongress 2025


Präsidentenrede
anlässlich der Eröffnungsveranstaltung am 28. Mai 2025

Timo Stöver, Frankfurt


Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Rede des Präsidenten ist traditionell Gelegenheit unser Fach zu reflektieren – und einen Blick in die Zukunft zu wagen.

Als Thema habe ich mir das diesjährige Kongressmotto ausgesucht: „Individualisierung vs. Standardisierung“.

Zunächst klingen diese Begriffe nüchtern, vielleicht sogar technisch. Doch sobald man sie mit anderen Themen verknüpft – Arbeitszeit, Steuern, Urlaub oder Bezahlung wird klar: Sie sind hoch emotional besetzt. Gleiches gilt für die medizinische Versorgung und auch in der Medizin. Und dabei spielt es eine erhebliche Rolle, aus welcher Perspektive man blickt: Arzt, Patient oder Gesellschaft. Alle haben unterschiedliche Erwartungen und Bewertungen, denn wir ordnen diesen Begriffen unbewusst positive und negative Eigenschaften zu, aber die Wertung ist doch meist sehr persönlich.

Mit der „Individualisierung“ verbinden wir am ehesten etwas, als würde man sich ein maßangefertigtes Kleidungsstück schneidern lassen, das ideal auf die jeweiligen Körpermaße zugeschnitten ist. Diese Assoziationen sind aber dennoch sowohl positiv als auch negativ:

• Positiv: „auf den Einzelnen ausgerichtet“ und „flexibel“
• Negativ: „freestyle“ oder „Willkür“

Mit „Standardisierung“ verbindet man meist eine Situation, die vielleicht am ehesten dem Besuch in einer Fast-Food-Kette entspricht. Die Pommes frites schmecken immer gleich und das weltweit. Ob der Geschmack dabei gleich gut oder gleich schlecht ist, wird damit nicht festgelegt. Variationen können vielleicht mit Ketchup oder Mayo, vielleicht sogar durch Süß-Sauer-Sauce erfolgen. Die Pommes frites bleiben aber immer identisch. Damit ergeben sich auch für die Standardisierung sowohl positive als auch negative Assoziationen:

• Positiv: „vorhersagbare Leistung“ und „Sicherheit“
• Negativ: „starr“ und „one size fits all-Ansatz“

Welche Bedeutung haben diese Begriffe aber in der Medizin?

Mit der Standardisierung verbindet man zunächst einheitliche Verfahren, Protokolle und Abläufe, die mit dem Ziel einer hohen Qualität, der Vermeidung von Fehlern und einer effizienten Ressourcennutzung angewendet werden.

Mit der Individualisierung sollen z. B. die genetischen, sozialen und persönlichen Besonderheiten des Einzelnen berücksichtigt werden, um eine auf diese Person zugeschnittene Diagnostik und Therapie zu finden. So wie es bereits in molekularen Tumorboards der Fall ist.

Beide Ansätze haben damit ihre Berechtigung. Man könnte sagen: Standardisierung schafft Verlässlichkeit und Individualisierung Präzision. Unser Ziel als Ärzte muss sein, die richtige Balance zu finden. Damit könnte ich im Prinzip den Vortrag enden lassen und das Buffet eröffnen. Aber ganz so einfach ist es nicht, denn die Theorie muss sich vor den großen allgemeinen Entwicklungen unserer Zeit beweisen, z. B. dem demografischen Wandel, dem Fachkräftemangel und auch den begrenzten Ressourcen. Und spezifisch in der Medizin ergeben sich weitere vielfältige Veränderungen durch den wissenschaftlichen Fortschritt, Big Data und vor allem die Künstliche Intelligenz (KI). Auch unsere HNO-Welt ist im Wandel: Ambulantisierung, Krankenhausreform, strukturelle Veränderungen – all das verlangt differenzierte Antworten.



Unsere Tätigkeit als Ärzte ist im Kern durch die Motivation getrieben, unsere Patienten bestmöglich zu behandeln. Und unser individueller Ehrgeiz besteht darin, nicht irgendeine, sondern, wenn immer möglich, die beste Lösung für die uns Anvertrauten zu finden. Es würde wohl kein Arzt sagen: „Ich könnte es ohne Risiko und Aufwand besser für Sie machen, aber ich denke, das ist gut genug für Sie.“ Aber woher ist bekannt, was die „beste Lösung“ für das jeweilige medizinische Problem ist?

Medizin war über Jahrhunderte ein in sich geschlossenes Wissenssystem. Ärzte waren privilegiert, denn sie konnten lesen und schreiben, Latein verstehen, hatten Zugang zu Büchern und Wissen – und verwenden eine Fachsprache, die andere ausschloss. Der Austausch fand in geschlossenen Kreisen statt – über Fachzeitschriften oder Kongresse, so wie diesen hier. In der Summe hat all dies dazu geführt, dass der Arzt über Jahrhunderte alleiniger Träger des medizinischen Wissens war. Dieses Monopol hat zu gesellschaftlichem Ansehen und schließlich auch zu Wohlstand geführt.

Im Arzt-Patienten-Verhältnis entwickelte sich aber ein erhebliches Machtgefälle: Der Arzt hatte das Wissen und der Patient musste es glauben. Und trotz des prinzipiellen Vertrauens bleibt oft ein Restgefühl von „Ausgeliefertsein“ auf Seiten der Patienten.

Auf welcher sachlichen Basis agieren aber eigentlich Ärzte in der Zielsetzung, die beste Behandlung zu finden und durchzuführen?

Der Arzt arbeitet primär auf Basis der geltenden Leitlinien, die den aktuellen Stand des Wissens zusammenfassen, und natürlich auch auf Basis seiner ethischen Maßstäbe, Ausbildung, Erfahrung, Erfolgen und Misserfolgen. Und bekanntermaßen lernt man aus nichts mehr als aus seinen größten Misserfolgen.

Dennoch resultieren bei gleicher objektiver Ausgangslage oft verschiedene Empfehlungen von Ärzten: „Zwei Ärzte, drei Meinungen“ ist daher kein Witz – sondern gelebte Realität und fast schon der Wappenspruch der Ärzteschaft. Oder: „Was, wenn zwei Ärzte einer Meinung sind? Dann kann einer kein Arzt sein“. Für Patienten ist dies natürlich nicht gerade vertrauenerweckend, und Individualisierung ist in diesem Zusammenhang sehr eindeutig negativ belegt, da sie als Unklarheit oder gar Willkür wahrgenommen wird.

Dies gilt auch für praktische Tätigkeiten und manuelle Fertigkeiten: Die Ausbildung der Ärzte mag formal identisch sein, aber die geleistete Arbeit doch unterschiedliche Ergebnisse erzielen. Manche „haben es eben drauf“ und andere – haben ein „kontinuierliches Potenzial“.

In einem System mit begrenzten Ressourcen ist es aber gesellschaftlich nicht akzeptabel, dass medizinische Leistungen derart individualisiert sind. Eine Leistung darf daher nicht allein als „Arbeit pro Zeit“ definiert werden, sondern sie muss auch das Ergebnis – also die Qualität – berücksichtigen. Im Sinne der Patienten sind Zertifizierungen und Standardisierung daher eindeutig der richtige Weg – so wie unsere Fachgesellschaft dies als Vorreiter bereits für einige Bereiche erarbeitet hat.

Und doch bleibt der Arzt weiter der alleinige Gatekeeper der Medizin, denn er hat die Deutungshoheit der Symptome und Befunde und damit die Gesamthoheit über der Behandlung des Patienten.

Jetzt könnten sich alle Beteiligten zurücklehnen und denken, dass das ja nun schon immer so war – der Arzt müht sich nach „bestem Wissen und Gewissen“, und der Patient sucht sich eben den Arzt, den er für den „Besten“ – oder zumindest nicht für den „Schlechtesten“ – hält.

Was aber, wenn das Fach-Wissen plötzlich für alle gleich verfügbar wäre?

Durch das Internet ist das Wissensmonopol der Ärzte längst gebrochen. PubMed, Open Access, Google Translate – ermöglichen es jedem Patienten in kürzester Zeit alle Informationen über aktuelle Studien zu bekommen. Der „Dr. Google“-Patient mit Laptop in der Sprechstunde ist längst Realität.
Und auch wenn das manche Ärzte nervt – „Dr. Google“ verändert an dem Kräfteverhältnis zwischen Arzt und Patient nur sehr wenig.

Denn Wissen zu haben, bedeutet noch lange nicht, es interpretieren und damit nutzen zu können. Hier braucht es weiter den Arzt, der Befunde bewertet und Patienten berät.

Was aber, wenn jetzt nicht nur alle Beteiligten das gleiche standardisierte Wissen hätten, sondern jemand dieses Wissen erklären und auch individuelle Befunde interpretieren würde?

„Dr. Google“ hat einen Nachfolger – Der Neue heißt „Dr. ChatGPT“, also die Künstliche Intelligenz (KI). „Dr. ChatGPT“ ist 24/7 und 365 Tage verfügbar, wird nie müde, kennt alle Leitlinien – macht nie Urlaub und hat endlos Geduld und beantwortet alle Fragen sofort. Und alles ohne Unterschied der Krankenversicherung.

Patienten laden einfach ihre Befunde hoch – und erhalten nicht nur allgemeine Informationen, sondern individuelle Empfehlungen auf der Grundlage ihrer eigenen Befunde. Die KI kombiniert damit also standardisiertes Wissen mit individueller Dateninterpretation. Und das ist keine Zukunftsmusik – sondern wirkliche Realität.

Ein Patient kommt künftig mit einer von der KI erarbeiteten Befund-Interpretation und sogar einer Therapieempfehlung zu uns. Der Arzt ist dann die zweite Meinung – und muss sich erklären, sollte dies nicht seiner Ansicht entsprechen. Das Primat der Meinungsbildung liegt damit plötzlich nicht mehr automatisch beim Arzt, sondern beim Patienten und seiner KI.

Und sollte ein Disput oder eine Diskussion aufgrund andersartiger Bewertung zwischen Patient und physikalischem Arzt resultieren, dann ist folgendes Szenario sehr plausibel:

In der Sprechstunde stellt der Patient mit dem Handy in der Hand die Meinung des physisch anwesenden Arztes der KI zur Diskussion – natürlich per Spracherkennung, ohne Tippen. Der Arzt diskutiert dann direkt mit der KI. In Echtzeit!
Man kann es noch realistischer machen mit einem Avatar, so dass die KI über das Aussehen von Dr. McCoy von der Enterprise oder wie Professor Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik kommuniziert. Der Gesprächspartner auf der anderen Seite hat unendliches Wissen und Geduld und einen wachsenden Erfahrungsschatz. Sie trainieren ihn mit jeder Unterhaltung.

Dieses Szenario verändert das Kräfteverhältnis zwischen Arzt und Patient nachhaltig und auch die Definition unseres Berufs:

- Braucht es noch die klassische ärztliche Ausbildung?
- Wie viele Ärzte braucht es dann überhaupt?
- Wie verändern sich Aufgaben, Bedeutung und Bezahlung?

Wahrscheinlich ist damit nicht der Kostendruck im Gesundheitswesen die größte Herausforderung für Ärzte – sondern die KI selbst, die das ärztliche Selbstverständnis im Kern in Frage stellt.

Damit habe ich ein Szenario gezeichnet, das mindestens zu schweren Depressionen führen kann – wenn nicht dazu, dass wir gleich gemeinsam wie die Lemminge zum Main gehen und uns in die Fluten stürzen.

Aber es gibt Hoffnung: Die KI hat keinen festen Auftraggeber. Auch Ärzte können sie nutzen – zur Entscheidungsunterstützung, zur Qualitätssicherung, zur Effizienzsteigerung. Und seien wir ehrlich: Das Potenzial für die Medizin ist gigantisch.

Und dann noch eine gute Nachricht für Sie: Sie sind HNO-Ärzte. Das ist natürlich für sich genommen schon eine sehr gute Nachricht, aber angesichts der gezeichneten Zukunftsperspektive wird es noch besser. Die KI kann keine Patienten untersuchen: Keine Ohrmikroskopie, keine Nasenendoskopie, keine Kehlkopfuntersuchung durchführen.

Und die KI operiert nicht. Zumindest nicht ohne uns. Und selbst bei Assistenzsystemen – wie wir sie aus der Urologie, Gynäkologie oder Herzchirurgie kennen – bleibt der Mensch der „Master“. Die HNO-Heilkunde war schon immer ein Fach, in dem handwerkliches Können, interdisziplinäre Vernetzung, vor allem Innovationen eine große Rolle gespielt haben. Als Fach sind wir flexibel und gewohnt mit Innovationen umzugehen und sie in unsere Arbeit zu integrieren. Und wir sind gewohnt mit anderen Fächern zusammenzuarbeiten. Kaum ein anderes Fach hat so viele Schnittstellen zu anderen Fächern wie wir. Dieser Kongress beweist dies eindrücklich mit 12 Fachdisziplinen, mit denen wir uns austauschen.



Und wer sagt, dass die Definition und Grenzen der Fächer in Zukunft so bleiben müssen wie wir sie heute kennen?

Vielleicht werden wir neue Zusammenschlüsse von Fächern sehen, so wie vor fast 100 Jahren, als aus dem Zusammenschluss der Otologie, der Rhinologie und der Laryngologie die moderne Hals-Nasen-Ohrenheilkunde entstand.

Wir sollten daher die zukünftigen Entwicklungen nicht primär als Bedrohung ansehen. Die KI, Ambulantisierung, Krankenhausreform oder Strukturwandel bieten neben Risiken vor allem große Chancen. Die Zukunft ist formbar, aber wir als HNO sind aufgerufen sie aktiv zu gestalten.

Natürlich wird sich Vieles ändern, aber Sie als HNO-Ärzte haben allen Grund mit Stolz in die Vergangenheit und Optimismus in die Zukunft zu schauen. Mit diesem Optimismus für die Zukunft möchte ich nun meinen Vortrag schließen und Ihnen, d. h. meiner Fachgesellschaft für Ihre Aufmerksamkeit danken.

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Timo Stöver
Präsident 2024/2025
Univ. HNO-Klinik
Theodor-Stern-Kai 7, D-60590 Frankfurt/M.